Artikel von 2016, anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Freien Radios für Stuttgart. Erstveröffentlichung im Modulator 11/2016.
20 Jahre Dauerkrise – Dilettanten, Querulanten und Sunreal
Es war im Herbst 1997. Ich wohnte in der Etzelstraße und das Freie Radio befand sich in der Falbenhennenstraße. So lief ich zwangsläufig alle paar Tage an der Schaufensterscheibe der finsteren und muffigen Kellersenderäume vorbei. An diesem Tag standen bereits einige Radiomacherinnen und Radiofunktionärinnen im Großraumbüro vor den Redaktionsfächern als ich den Raum betrat. Es wurde hitzig diskutiert.
Es ging um das Thema Internet, von dem ich keine wirkliche Ahnung hatte – was aber beim Freien Radio nicht schlimm war: Die Stimmung war aufgeladen. Einer der Beteiligten vertrat die These, das Internet würde die Menschheit revolutionieren und in 10 bis 20 Jahren wäre nichts mehr so wie wir es aktuell kennen. Dann gäbe es keine Radios mehr und keine TV-Anstalten. Dann bräuchte man sich nicht mehr um mickrige Glühbirnen-Frequenzen zu streiten. Das ginge dann alles über das Internet. Alles digital! Streaming! „Nur die Vorstände des Freien Radios sind zu doof um das zu erkennen und das Radioplenum ja sowieso. Wir brauchen das Internet!“ Die anderen lächelten milde und winkten mit abfälligen Handbewegungen, wie man sie vom Fußball her kennt, wenn jemand meilenweit vorbei oder drüber schießt.
Ich hatte Windows 95 auf meinem PC, einen Kassettenrekorder im Auto, einen Anrufbeantworter und kannte jemanden der einen Scall hatte. Das hielt ich für High Tech – aber Internet? Keine Ahnung, ob man das braucht.
Beiläufig erwähnte eine der Personen, dass in das Fach des Brezelfunks ein Zettel mit einem Rückrufwunsch gelegt wurde. Ein Engländer aus Stuttgart habe angerufen und möchte wohl senden. Nichts Genaues wisse man aber nicht, man hatte ihn nicht gescheit verstanden. Wenn ich Lust hätte, solle ich doch zurückrufen. „Vielleicht ja was für eure Redaktion?“ Solche Sachen schob man mir gerne zu.
Ich nahm den Zettel an mich: „SUNREAL“ stand krakelig darauf und eine Telefonnummer. „Vielleicht ja eine Band“, mutmaßte ich. „Oder eine pseudoreligiöse Sekte“, bemerkte der größte Spaßvogel unter den Anwesenden. Dies brachte den Internetbefürworter und Visionär nochmals ins Spiel: „Wenn wir jetzt Internet hätten, könnten wir nachschauen. Das steht dort alles. Wir brauchen Internet!“ „Dann stell doch einen Antrag im Plenum.“ „Das kann der Vorstand doch alleine entscheiden, wenn er was taugen würde.“ „Kann er nicht.“ „Kann er doch.“ „Kann er nicht.“ „Kann er doch.“ „Im Plenum abstimmen lassen kann man vergessen. Der Vorstand ist doch eh unfähig. Die Strukturen sind eine Katastrophe.“
Ich ging mit dem Zettel und dem Vorsatz nach Hause, unbedingt herausbekommen zu müssen, was es mit diesem verdammten Internet auf sich hatte.
Das Freie Radio war wirklich eine einzige Katastrophe. Das wurde schon am Tag des Sendestarts ein Jahr zuvor offensichtlich. Ich saß mit drei anderen Leuten aus der Brezelfunkredaktion vorm Bäcker Frank. Wir hörten über ein Autoradio die Vogelstimmen vom Endlosband und warteten auf die Ansprache und den ersten Song, der über den Äther gehen würde. Wir machten Brainstorming, was man alles als geeignetes erstes Lied spielen könnte. Wir liefen zu Hochform auf. Es hätte mindestens 50 passende und würdige erste Lieder gegeben.
Doch plötzlich blieb mir die Brezel im Halse stecken, der neben mir warf sich unkontrolliert auf den Boden, der andere hämmerte auf das Autodach als über die Lautsprecher „Radio Gaga“ von Queen ertönte. Was für Dilettanten, was für ahnungslose Stümper – das wird nie etwas mit diesem Radio. Wir schüttelten den Kopf und winkten mit abfälligen Handbewegungen, wie man sie vom Fußball her kennt, wenn jemand meilenweit vorbei oder drüber schießt. Die 20-jährige Dauerkrise des Freien Radios für Stuttgart hatte schon in der ersten Spielminute begonnen.
Das Radio war für mich trotz des ganzen unerträglichen Formatradios, das SDR, SWF und Konsorten seit Mitte der 1980er Jahre boten, immer noch positiv besetzt. Heribert Faßbender und Jochen Hageleit berichteten zu meiner Kindheit vom Bökelberg, Klaus Kaiser und Gert Melion aus dem Neckarstadion. Club 19, Point, Schlafrock und der SWR Pop Shop sorgten für meine frühe Musiksozialisation. Ich hörte jeden Tag und nahm wie wild BASF-Musikkassetten auf.
Ach ja, der SUNREAL Zettel. Der lag einige Tage auf meinem Esszimmertisch. Eigentlich wollte ich gar nicht zurückrufen, aber im Zuge von Anstand entschied ich mich doch dazu. Ich schaute mir die Nummer erstmals genauer an. Es handelte sich um eine Nummer in England – komisch. Doch das machte mich neugierig. Also rief ich an.
Ich suchte mir im Videotext eine günstige Vorwahlnummer für UK und begann mit meinem orangenen Wählscheibentelefon zu wählen. Am anderen Ende meldete sich eine glockenhelle und feinstes englisch sprechende Frauenstimme. „To whom do you want to talk to?“ „To SUNREAL.“ „Ah to John Peel!“ John Peel? Hatte ich das richtig verstanden? John Peel? Der Radio DJ Gott?
Plötzlich hatte ich diese vertraute Stimme am Ohr, die ich von BBC Transcription Service Platten und Kassetten her kannte. In NRW, Niedersachen, Hamburg und Berlin konnte man nämlich jahrelang John Peel über BFBS hören und ein Freund kannte einen Mittelsmann, der einen Verwandten in Herne hatte, der ab und zu ein paar Tapes schickte. Diese Stimme sprach nun live zu mir am Telefon. Ich hatte mindestens 50 Peel-Sessions LP’s in meinem Plattenregal. Als ich das erste Mal in London war ging ich zwei Wochen kaum aus dem Hotelzimmer, weil ich alle Peel- und sonstigen BBC-Sendungen hören musste. Nun musste ich mich trotz meines komfortablen 10m-Telefonkabels aus psychosomatischen Gründen setzen und erstmal tief durchatmen.
Das Anliegen von Peel war schnell geklärt. Er bot an, monatlich ein zweistündiges Tape für alle interessierten Freien Radios in Deutschland zu produzieren. Nur müsste ein Verteiler zustande kommen – je mehr freie Radios desto besser. Er hatte wohl schon einige Freie Radios angerufen, nur kannte ihn dort niemand bzw. rief ihn niemand zurück. Was für Dilettanten. Wie bei uns, dachte ich. Ich sicherte ihm zu, mich darum zu kümmern und ihm Bescheid zu geben. Er gab mir seine Email-Adresse durch. Ich tat so, als ob es für mich das Natürlichste und etwas Tagtägliches wäre Emails zu schreiben. Mist, ich musste dringend herausbekommen was es mit diesem Internet und mit Emails auf sich hatte.
Nun wäre das Gespräch eigentlich vorbei gewesen. Ich bedanke mich bereits artig und überschwenglich, da fragte mich Peel, was ich eigentlich im Freien Radio für Stuttgart so machen und was ich aktuell so an Musik hören würde?
Ich blätterte durch meine aktuellen Schallplatten-Neuzugänge und las ihm die Titel vor. Er antwortete höflich: „very interesting“. Dann sagte ich fast beiläufig, dass ich auch noch eine kleine Fußballsendung machen würde. Plötzlich erhob sich seine Stimme und er sprach lauter und schneller. Er wollte wissen, ob ich VfB Stuttgart-Fan wäre. Ich sagte nein. Borussia Mönchengladbach. Das war das Stichwort.
Liverpool FC vs. Borussia Mönchengladbach. Mit die größten Spiele der 1970er Jahre und immer kam Liverpool weiter oder gewann den Pokal. Die größten Traumen meiner Kindheit, zugefügt von diesem bescheuerten Club. Die Beatles hin oder her, ich mochte Liverpool nicht. Ich verweigerte mich auch der großen Verehrung, die dem FC Liverpool in Deutschland seit jeher zu Teil wird. Deren Fankultur in allen Ehren, aber für mich kam Liverpool immer gleich nach den blöden Bayern, Inter Mailand und Real Madrid im Antiranking.
Und nun musste ich ausgerechnet mit John Peel darüber reden. Als Kind war ich tagelang nicht ansprechbar nach den Niederlagen. Nun galt es Haltung zu bewahren.
Die UEFA-Pokalfinalspiele 1973 und das Finale im Europapokal der Landesmeister 1977 hakten wir schnell ab. Wir blieben an den Halbfinalspielen 1977/1978 hängen. Hätte Ray Clemence den Freistoß von Rainer Bonhof halten müssen im Hinspiel? Ich sagte nein. Bonhof hatte mit den härtesten Schuss der Bundesliga damals. Wenn überhaupt, dann stand die Mauer nicht besonders gut, soweit ich mich entsinne. Nein, meinte Peel, den hätte er halten müssen – soweit er sich entsinne. Hätten wir nur schon Internet gehabt.
Dann unterhielten wir uns noch darüber, dass in Deutschland der überwiegende Teil der Fußballfans annimmt, in England würde bei jedem Spiel und bei jedem Verein „You’ll never walk alone“ gespielt und gesungen werden – sozusagen als Nationalhymne des englischen Fußballs. Und dass viele deutsche Vereine das Lied auch über ihre krächzigen Lautsprecheranlagen spielen, vor allem nach Niederlagen als Trauerhymne. Das fand er „strange“ aber auch „very funny“.
Bereits am Tag danach fing ich an andere Freie Radios anzurufen. Nach einigen Telefonaten wusste ich, was für ein aussichtsloses Unterfangen dies darstellte: Anrufbeantworter, unfreundliche Radiomacherinnen, keine Zuständigkeiten, man kannte die eigenen Redaktionen nicht und sowieso kannte kaum einer John Peel. Am einzigen Ort wo sie ihn kannten und das Angebot irgendwie gut fanden, sollte ich zum Plenum kommen und mein Anliegen persönlich vorbringen. Außerdem wäre das ja was für die AFF, den Dachverband der Freien Radios in Ba-Wü, gab man mir den Tipp – nur wusste niemand so genau, ob die AFF in den nächsten Monaten nochmals tagen würde und ob die Tagesordnung nicht schon bis 1999 wegen der schwierigen Frequenzdebatten voll sei. Ahnungslose Stümper, Dilettanten und dazu noch als Korinthenkacker die Bürokratieschiene reiten. Alles wie bei uns, dachte ich. Kennt man ein Freies Radio, kennt man vermutlich alle.
Post von Peel. Inzwischen trafen die ersten beiden DAT’s von ihm ein. Ich war hoch erfreut, hatte aber zuhause keinen DAT-Recorder und konnte somit nicht vorhören.
Ich beschloss, immer am ersten Sonntag im Monat zwei Stunden meiner Sendung Kraut und Rüben für Peel einzusetzen. Gesagt getan – nur war ich von den ersten beiden Sendungen bei der Ausstrahlung nicht wirklich begeistert. Das war selbst mir zu viel Kraut und Rüben. Drum’n’Bass aus Portugal, fieser Technometal aus Finnland, dann ein Junglestück aus Belgien, dazwischen The Fall und Wedding Present, düsterer Dubstep aus Southeast London und dann ein lahmes Elektrostück eines englischen Pensionärs, der auf Teneriffa lebt und zum Abschluss dann ein Dancehallstück aus Österreich.
Das war zwar alles irgendwie „real independent“, aber auch eine beliebige Aneinanderreihung von Songs. Klar, Peel bekam am Tag hunderte von Platten, CD’s und Tapes und musste zig Sendungen pro Woche produzieren. Aber irgendwie war das halbgar und für meinen Musikgeschmack auch nicht wirklich interessant.
Inzwischen hatte ich immerhin über persönliche Kontakte und mit großem Aufwand einen kleinen Verteiler mit drei weiteren Stationen in Deutschland hinbekommen. Ich wartete noch die nächsten beiden DAT’s ab – aber die waren inhaltlich sehr ähnlich gestrickt.
Da ich meine wertvolle Kraut und Rüben-Sendezeit nicht weiter einsetzen wollte, beschloss ich im Herzstück des Freien Radios – dem Plenum – einen Antrag auf Sendezeit für Peel zu stellen. Ich liebte das Radioplenum: Die Mischung aus SED-Politbüro, Anarchokindergarten und Komödienstadel gefiel mir. Dazu die stets vorherrschende Krisen- und Nörgelstimmung. Das hatte was.
Der Höhepunkt war stets wenn sich neue Redaktionen vorstellten und mit gebetsmühlenhaft an sie herangetragenen Fragen einem Gewissens- und Gesinnungstest-Accessmentcenter unterzogen wurden. Das staatlich geprüfte Gewissen bei der Wehrdienstverweigerung war abgeschafft, aber es feierte seine Renaissance im Zuge der Basisdemokratie im Freien Radio für Stuttgart.
Informelle Hierarchien, Lobbying, Absprachen – wenn die richtigen Leute einen Antrag stellten und die weiße Wand im Raum im Laufe der Diskussion plötzlich für blau erklärt wurde, dann war sie zum Schluss auch blau – obwohl sie weiß war. Ich hielt es nicht nötig Lobbying für Peel zu machen. So schlug die Basisdemokratie gnadenlos zu und ich erlitt massiv Schiffbruch. Die Abstimmung ging ca. 3:29 aus, bei einer Enthaltung. Die höchste Niederlage des FC Liverpool aller Zeiten.
Die Begründung des Plenums war einleuchtend: John Peel sei kein Mitglied im Freien Radio und habe somit keinen Anspruch auf Sendezeit. Er gehöre auch keiner Redaktion an. Die Umwidmung eines Sendepools komme nicht in Frage und außerdem wolle man keine Stars. Man verstehe sich als ein Radio in dem sich die Macherinnen auf Augenhöhe begegnen. Die eigenen Musiksendungen wären dann eben subjektiv schlechter als die von Peel, aber das könne man ja eh nicht messen, da reine Geschmackssache. Wenn Peel senden wolle, dann gelte für ihn das, was für andere auch gelte. Er solle sich mit einem Sendekonzept bewerben, was aber als Einzelperson sowieso nicht ginge. Denn im Freien Radio können sich ja nur Redaktionen bewerben.
Der Kleintierzüchterverein Unterboihingen und der Kleingartenverein Plattenhardt hätten sicherlich auch nicht anders entschieden, aber vermutlich hätten mehr Mitglieder John Peel gekannt.
Spontan beschloss ich mit der Sache nichts mehr zu tun haben zu wollen und schenkte der einzigen Person, die sich wirklich für die John Peel-Sendungen interessierte, die DAT’s. Sie sollten zukünftig in seiner Redaktion gespielt werden, was laut Plenum niemand verbieten kann, da man ja während der eigenen Sendezeit die Freiheit hat, spielen zu dürfen was man will.
Ein paar Tage später ging die Email an Peel raus. Die erste, die ich in meinem Leben geschrieben habe bzw. habe schreiben lassen. Ich erklärte ihm, dass seine Sendungen super angekommen waren und dass wir im Freien Radio für Stuttgart uns alle riesig freuten und bald sicherlich noch weitere Freie Radios in Deutschland zum Verteiler dazukommen würden – alles bestens, nur dass es ab sofort eine neue Ansprechperson geben würde.
Für diese Email musste ich mit einem Radiomacher aus einer anderen FRS-Redaktion extra ins Fraunhofer Institut, da er dort HiWi war. Er erklärte mir auch noch schnell nebenbei das Internet: Fast nur Pornos, dubiose Schriften ohne verlässliche Quellen und zuhauf radikaler Scheiß und Schwachsinn. Das könne ich getrost vernachlässigen, denn das Internet würde sich seiner Meinung nach niemals durchsetzen. Das brauche die Menschheit wirklich nicht.
Im Gegensatz zum Freien Radio für Stuttgart!
John Peel (1939 bis 2004)
John Peel arbeite von 1967 bis zu seinem Tode 2004 für die BBC. Davor war er einige Jahre in den USA und machte dort Radio. Kurzzeitig sendete er vor seinem Einstieg bei der BBC auch für den Piratensender „Big L“ in London, was seine Verbundenheit mit alternativen Radioprojekten und Freien Radios erklärt. John Peel durfte immer spielen was er wollte (wie andere BBC-Hosts bis zum heutigen Tag) und mochte genau das an den Piratensendern und sonstigen freien Radioprojekten.
Für viele Bands und Interpreten war Peel der Startschuss ihrer Karriere. Peel machte vor keinem Genre halt und hatte auch in Deutschland einen großen Einfluss, da man seine Sendungen über BFBS und später auch über öffentlich-rechtliche Sender in einigen Bundesländern hören konnte. Fester Bestandteil seiner Sendungen waren die „Peel Sessions“, bei denen die Bands im Studio live für Peel spielten. Über 4000 solcher Sessions sind dabei entstanden. Peel gilt für viele als der einflussreichste Radio-DJ und größte Multiplikator für Musik aller Zeiten.
Internet: YouTube – John Peel’s Record Box (51:06 min); Nothing leaves the Archive (17:53 min); Rainer Bonhof vs. Ray Clemence Part 2 (1:10 min)
John Peel im Freien Radio für Stuttgart
Nachdem seine ersten Sendungen im Rahmen der Brezelfunksendung „Kraut und Rüben“ ausgestrahlt wurden, gelangten sie über „Die blaue Stunde“ und „Jazz funkt“ Anfang des Jahres 2000 zu „Harakari“. Dort wurden die Sendungen dann kontinuierlich bis zu seinem Tode im Oktober 2004 einmal im Monat ausgestrahlt.