WIE DER PUNK NACH STUTTGART KAM

Beitragsbild/Teaser – Foto: Jay-Jayheim

„WIE DER PUNK NACH STUTTGART KAM“ (1978 bis 1983)

Jürgen Jankowitsch im Gespräch mit Barny Trouble

1978 war ich 13, 1983 18 Jahre alt. Mit die prägendsten Jahre meines Lebens. Ich liebte Musik, ich hörte Punkrock und New Wave, ich ging auf Konzerte und lernte nach und nach ordentliche Mengen Bier zu trinken – doch von den 44 Bands auf dem Vinyl-Sampler zum Crowdfundingprojekt „Wie der Punk nach Stuttgart kam“ kenne ich nicht mal ein Dutzend Bands und Interpreten vom Namen her und habe damals davon maximal drei bewusst live gesehen.

Gut, ich wohnte 25 km von Stuttgart entfernt und wir waren Provinzler, aber wir hatten gute Verbindungen nach Stuttgart und besuchten Konzerte in der Mausefalle und der Tangente – gingen ins Exil, OZ, Crash und später Odeon.

1981 hörte ich The Jam, Stiff Little Fingers, Gang of Four, Clash, Ultravox!, Specials usw. aber auch Van Morrison, Kraftwerk, Thin Lizzy, Black Sabbath und Co. Ich mochte deutsche Bands wie Fehlfarben, Ton Steine Scherben, Abwärts, Trio und Ideal, hörte Reggae und begann mich für Soul zu interessieren.

Ich war unter anderem bei den Dexys Midnight Runners, Abwärts, den Einstürzenden Neubauten, Mechanik Destruktiv Kommando, Ruts DC und Trio in der Mausefalle und bei Motörhead und den Dead Kennedys im Siegle-Haus. Wie der Punk nach Stuttgart kam, weiß ich also. Wie sich die Musikprodukte aus Stuttgart und der Region jedoch anhörten, habe ich überwiegend verpasst – bis auf Ätzer 81.

Gaetano Nucaro alias „Heizer“ nötigte mich, als die Platte damals rauskam, sie ihm für 12 Mark abzukaufen. Ich willigte arglos ein. Es sollte sich als einer der schlechtesten Deals meines Lebens herausstellen. Ich hörte eine Seite und stellte die Platte sofort in eine Weinkiste, die sich hinter einer Türe in der Dachschräge meines Zimmers befand. Da hatte ich Breunibär-, Kinder- und K-Tel-Schallplatten ausgelagert, die mir zu schlecht oder zu unwürdig für die alphabetische Ordnung meiner sonstigen Schallplatten waren.

Ich wollte selbstverständlich von Heizer das Geld zurück, bekam aber nur eine Schachtel Reyno Menthol-Zigaretten zum Ausgleich. Er meinte die Platte würde nach mehrmaligem Hören wachsen und ich solle ihr unbedingt nochmals eine Chance geben. Nichts da! Ätzer waren schlecht, grottenschlecht – so ziemlich das Schlechteste was ich jemals gehört habe. Folgerichtig war die Platte eine der wenigen Platten, die ich direkt (einige Jahre später beim Umzug) in die Mülltonne geworfen habe.

Gute Voraussetzungen also, um sich dreieinhalb Jahrzehnte später nochmals bzw. erstmals richtig an das Phänomen Punk aus Stuttgart und der Umgebung heranzuwagen.

Barny Trouble hat den CD Sampler zum Buch und auch die Doppelvinylausgabe zusammengestellt. Er hat zwei Jahre recherchiert und Musikstücke zusammengetragen, darunter auch von Ätzer 81.

JJ: „Barny, ich habe den Punkrock aus Stuttgart und Umgebung mehr oder weniger verpasst. Also zumindest den aus den Jahren 1978 bis 1983. Du warst damals mittendrin, oder?“

BT: Nein, mir geht es wie dir. Ich bin in Böblingen aufgewachsen und kam durch einen Besuch bei meinem Cousin im August 1977 in London zum Punk. Da habe ich mir drei Mal in einer Woche die Band 999 angeschaut: 2 x im Red Cow und 1 x im Nashville. Ich wusste vorher schon, dass es eine Punkbewegung in London gibt, da ich einen Schweizer Radiosender hörte und auch darüber gelesen hatte. Ich kannte Bands wie The Damned, die Sex Pistols und so, aber infizierte mich tatsächlich erst bei diesem Besuch so richtig mit der Idee und der Bewegung. Deshalb hat mich der deutsche Punk auch gar nicht so interessiert, denn der war ja nach meinem damaligen Empfinden nur nachgemacht. Das Original kam für mich immer aus UK. Ich war dann in den folgenden Jahren regelmäßig in London und habe auch ein Jahr in Brixton in einem besetzten Haus gewohnt. Wir waren dort damals fast die einzigen Weißen im Viertel.

JJ: Wann bist Du dann nach Stuttgart gezogen?

BT: Anfang 1983. Darum war das jetzt für mich auch eine tolle Sache, da ich sozusagen von außen und relativ unbedarft diese Sache mit der Musikrecherche in Stuttgart und Umgebung in der Zeitspanne 1978 bis 1983 angehen konnte.

JJ: Die Recherche und Kontaktaufnahme zu den Bands scheint ja ziemlich gut und problemlos geklappt zu haben?

BT: Da ich ja nicht in irgendwelche Animositäten mit den Bands oder Interpreten verwickelt war damals, hat die Kontaktaufnahme und die Umsetzung des Samplers gut geklappt. Dank Simon Steiners Interviewrecherchen für das Buch zum Projekt wurden zum Teil schon Kontakte geknüpft, so dass ich da gut andocken konnte. Und so kam eines zum anderen. Oft scheitern solche Projekte ja daran, dass noch persönliche Differenzen aus der Zeit von damals im Raum stehen und deshalb ein solches Vorhaben schnell mal torpediert und ausgehebelt wird. Solche Szenen sind ja nie ganz einfach. Aber mir ist es überwiegend sehr leicht gemacht worden, da die allermeisten Bands bzw. Ansprechpartner sehr kooperativ und sehr interessiert waren.

JJ: 1978 bis 1983 ist ja eine riesige Zeitspanne. In dieser Zeit ist von der musikalischen und jugendkulturellen Seite aus unglaublich viel passiert. Zudem prägten sich die Szenen und Lager immer weiter aus und spalteten sich ja auch immer weiter auf. Wie war das in Stuttgart und Umgebung?

BT: In Deutschland und speziell in Stuttgart war man ja Jahre hinterher. So fanden durch die Zeitverzögerung zeitweise auch Punk, Ska, Wave, NDW etc. gleichzeitig statt. Der deutsche Punk hat schon eine ganz eigene Note und Sprache und einen ganz eigenen Kontext. Und Stuttgart ist da nochmals ganz speziell, verglichen mit anderen deutschen Städten. Zudem lagen mir von 1978 bis 1980 nicht so viele Aufnahmen vor, wie aus den Jahren 1981 bis 1983. Deshalb ist der Schwerpunkt auch automatisch auf Anfang 1980er Jahre gerutscht.

JJ: Worin siehst Du den Wert dieser musikalischen Ausgrabungen? Siehst Du auch einen Wert für jüngere Generationen oder nur für die Veteranen, die das damals auch selbst mehr oder weniger erlebt haben?

BT: Spannend ist es ja immer zu schauen, wo kommt was her und wie war das damals. Es gibt ja seit Jahren schon Zusammenstellungen zu den unterschiedlichsten Themen, mal auf Labels, mal auf Städte, mal auf Musikstile bezogen. Das ist ja sozusagen moderner Geschichtsunterricht anhand von Musik und dem jeweiligen Kontext. Von daher ist das nicht nur für die ältere Generation, die das mehr oder weniger miterlebt hat spannend, sondern im Idealfall auch für die jüngere Generation, die gerade Punkmusik aus Stuttgart oder Punk generell gut findet und wissen will wie das in der Anfangszeit hier so war. Zudem finde ich, dass die Zeitspanne 1978 bis 1983 die kreativste und originellste Phase des Punk, New Wave und seiner ganzen Subgenres überhaupt war.

Foto: Michael Schill

JJ: London und New York spielten in der Champions League des Punk, aus deutscher Sicht Hamburg, Berlin, Düsseldorf und Hannover in der Bundesliga. Stuttgart war da doch nur Bezirksliga, oder?

BT: Da ist durchaus was dran. Stuttgart war ja viel zu sauber und damals noch viel mehr schwäbisch kehrwochenartig durchstrukturiert als heutzutage. In jeglicher Hinsicht. Es gab kaum Abbruchhäuser in denen man hätte proben können, kaum selbstverwaltete Jugendhäuser, keine AJZ’s etc. Wir hatten weder einen britischen Sender, noch ein Piratenradio, noch konnten wir mal schnell nach London, Berlin oder Hamburg fahren. Wir waren in Stuttgart ziemlich abgehängt. Wenn ich damals oder auch über all die Jahre in andere deutsche Städte kam, wurde ich als Stuttgarter häufig belächelt. Auch als ich jetzt einigen Leuten in anderen Städten davon erzählt habe, dass ich gerade einen Sampler zusammenstelle, haben die sofort den Kopf geschüttelt. Stuttgart und Punk? Da war doch gar nichts. Darum ist es auch umso erstaunlicher, wie viele Bands es tatsächlich trotz aller Standortnachteile bei uns damals gab und wie vielfältig und originell die Szene war.

JJ: Wie viele Bands gab es damals denn insgesamt?

BT: Es gab ca. 95 Bands mit existierenden Aufnahmen in der Zeitspanne und ca. 85 ohne Veröffentlichung. Also ca. 180 Bands, die es nachweislich gab. Auf der Doppel LP und der CD sind insgesamt 50 verschiedene Bands drauf.

JJ: Wie viele kamen dabei direkt aus der Stadt Stuttgart und wie viele aus der Region Tübingen / Reutlingen?

BT: Auf der Doppel LP ist das Verhältnis Stuttgart zu Reutlingen/Tübingen ziemlich ausgeglichen. Dazu kommen noch 5 oder 6 Bands aus anderen Orten aus dem Großraum Stuttgart.

JJ: Wo gab es sonst noch aktive Szenen im Großraum Stuttgart bzw. Ba-Wü, die Du jetzt in deinen Recherchen nicht berücksichtigt hast?

BT: Pforzheim hatte neben Stuttgart und Tübingen/Reutlingen die größte Szene. In Baden-Württemberg gab es natürlich in jeder größeren Stadt eine mehr oder weniger große Szene – das habe ich aber nicht untersucht, sondern mich auf den Großraum Stuttgart beschränkt.

JJ: Ich habe die Doppel LP+7“ drei Mal durchgehört und nenne dir meine 5 Lieblingslieder. Kannst Du mir jeweils etwas zu den Hintergründen der Songs/Bands sagen?

Fuckin‘ Gute Bürgerband – Sauerkraut

JJ: Sehr guter Reggaesong mit tollem Text. Gutes Feeling, sehr reduziert, tolle Gitarrenparts – sauber und gut produziert. Ein Tophit! Für mich waren die aber eher so ein Rockkabarett damals, also eher verwandt mit z.B. Schwoißfuaß oder der Highdelberg Dream Band, als mit Punk.

BT:. Die FGBB hatte es halt auch schwer. Andy Goldner war ja Hippie, Krautrocker, Beatmusiker und war irgendwie bei allem mit dabei und schon deutlich älter als das Punkpublikum. Die waren nicht beliebt bei den Punks damals, aber ich wollte das Stück unbedingt draufhaben.

JJ: Auf YouTube gibt es einen super Livemitschnitt von Sauerkraut aus der Bunten Fabrik in guter Bild- und Tonqualität. Ein tolles Zeitdokument -> FGBB „Sauerkraut“ Live 81, 7:11 min

K.G.B. – Ich kann mich nicht erinnern

JJ: Toller spannungsgeladener Song mit großartigem Postpunkeinschlag und sozialkritischem Text zur Flick-Parteispendenäffäre.

BT: Auch eines meiner absoluten Lieblingsstücke. K.G.B. brachten übrigens 1982 deutschlandweit die erste Punk-Picture 7“-EP „Donald Duck im Pentagon“ heraus.

Partner der Welt – TV Serie (Fortsetzung folgt)

JJ: Where’s Captain Kirk? Klingt wie ne Mischung aus Cats TV Killerautomat und Major Tom predated. Die hätten 100 000 Singles verkaufen können – zwei Jahre später und hochwertiger von einem Major-Label produziert.

BT: Die waren nur ein Projekt, die haben nie live gespielt. Die haben nur diese eine Single gemacht. Gefällt mir auch sehr gut.

 

Pascal – Rendez-Vous Europe

JJ: Erinnert mich an Trans Europa Express und an Fronkreisch, Fronkreisch.

BT: Der Pascal hat tatsächlich an der Tür vom Mannschreck geklopft und wollte was aufnehmen. Sie konnten sich kaum verständigen, da der Pascal nur französisch konnte. Dann haben die beiden so ein bisschen rumgejammed und Mannschreck hat sein Aufnahmegerät schon mitlaufen lassen. Als Mannschreck meinte, dann versuchen wir jetzt mal was aufzunehmen, dann sagte der Pascal dass es das für ihn schon war. Danach ist der dann für immer nach Frankreich zurück verschwunden und Mannschreck hat den Song als Single rausgebracht. Das größte Mysterium der Stuttgarter Punkszene sozusagen.

JJ: Gute Geschichte – aber das soll ich glauben? Der Typ spricht so französisch, wie man in Plattenhardt oder in Altbach französisch spricht, wenn man vorher noch nie französisch gesprochen hat.

BT: Nein, echt! Die Geschichte stimmt. Er hat sogar noch eine Frau aus Filderstadt geschwängert, bevor er ging.

JJ: Und vermutlich ist er heute Professor an einer Hochschule in Bielefeld. Aber das Stück ist gut.

The Nothing – Suburb Gangs

JJ: Herrlich dilettantischer 1978er Punk, sogar mit virtuosem Gitarrensolo. Wären die aus Croydon oder Shepherd’s Bush gewesen, hätte sie John Peel bis in den NME gespielt.

BT: Eines der ältesten Stücke auf dem Sampler. Das war mal wieder Oli Neitzel, der ja in vielen Bands insgesamt war. Aber da waren er und die anderen Bandmitglieder noch ziemlich jung. Gefällt mir aber auch sehr gut, weil die Band ihren Song ab der Mitte zu dekonstruieren beginnt und dadurch der Charakter von 3-Akkord-Pogo zu fast schon experimentell wechselt. Ganz große Kunst!

JJ: Ist eigentlich irgendetwas von den ganzen Sachen bei einem Major-Label erschienen oder alles nur im Selbstverlag bzw. bei kleinen Labels? Was für Vermarktungsmechanismen gab es denn?

BT: Nein, Intercord bzw. Mute haben da nicht darauf reagiert. Drei Viertel der Sachen die ich jetzt zusammengestellt habe, sind damals ja nur auf Kassette erschienen. Lediglich ein Viertel der Sachen kamen auf Vinyl heraus. Es gab ein paar Fanzines, manche allerdings nur in einer Auflage von 10 oder 20 Stück. Ansonsten ging alles über Flyer und Mund zu Mund-Propaganda und über die Plattenläden. Viele Bands wollten auch gar keine Platte machen, das waren nur wenige die wirklich Ambitionen hatten. Es war auch uncool in Richtung Marketing und Kommerz zu denken.

JJ: Welche Themen werden denn im Buch und in der Ausstellung behandelt?

BT: Es wird näher eingegangen auf Bands, Treffpunkte und Auftrittsorte, Fanzines, Artwork, Comics, Vinyl, Kassetten, Plattenläden, Studios, Labels, Ästhetik, Mode, Pogo, Haltung, Politik und Identität. Alles sehr anschaulich und sehr interessant aufbereitet.

JJ: Die Ätzer 81 Platte soll ja inzwischen wertvoll sein, habe ich gehört?

BT: Es werden horrende Preise dafür gezahlt, warum auch immer. Selbst schon für ein Bootleg davon. Du hättest sie also behalten sollen, statt sie wegzuwerfen. Du hattest ja sogar das Original.

JJ: Breuni und K-Tel habe ich noch.

BT: Hättest Du mal lieber die weggeworfen.

JJ : Fuck.

 

 

*Ausstellung „Wie der Punk nach Stuttgart kam“: 15.09 bis 15.10.2017 im Württembergischen Kunstverein; Festival mit ca. 15 Bands an drei Tagen am 29.09, 30.09 und 01.10.2017 im Württembergischen Kunstverein – u.a. mit Normahl, Herbärds, Familie Hesselbach, Eight Rounds Rapid. Das Buch mit CD kostet 65€, die Doppel-LP 25€ – den ersten 200 Exemplaren liegt eine 7“ Single bei. www.incognitorecords.de; www.stuttgartpunk.de

*„Wie der Punk nach Stuttgart kam“ im Freien Radio für Stuttgart: 15.09.2017 von 16 bis 18 Uhr: Harakiri –  Ivy Pop und Arne Braun im Gespräch mit Bernd Schmidt; 16.09.2017 von 17 bis 19 Uhr: Kosmik Orgon Kanister – Michael Piltz und Jürgen Jankowitsch im Gespräch mit Barny Trouble; 30.09.2017 von 18 bis 19 Uhr: Kosmik Orgon Kanister – Michael Piltz und Jürgen Jankowitsch im Gespräch mit Mitgliedern der Band „Eight Rounds Rapid“ aus Southend-on-Sea, die am 01.10 auf dem Festival und am 02.10.2017 im Merlin spielen werden.

*Bernd Schmidt alias Barny Trouble betreibt nebenbei den kleinen Mailorder „Incognito“ und das dazugehörige Label „Incognito Records“ auf dem die Doppel LP +7“ und auch die dem Buch beiliegende CD zu „Wie der Punk nach Stuttgart kam“ erscheinen wird.

Der Originalartikel ist im Modulator 08.09/2017 erschienen, dem Programmheft des FRS (Freies Radio für Stuttgart)
www.freies-radio.de

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