“You don’t have to be a musician
to play rock and roll.
You’ve just got to love it
and want to play it.“
“People don’t talk about
an orchestra and say,
‚Oh. Are ya still playing that
fucking old Beethoven stuff?‘
Why should they say
the same to us?“
LEE BRILLEAUX (1976)
Vor kurzem fuhr ich eine längere Strecke im Auto. Es war ein Feiertag. Der Sender, den ich eingestellt hatte spielte „One Hit Wonders“. Und was kam? Richtig, „Milk and Alcohol“ von Dr. Feelgood.
Moderatorin: „Ein einziger Hit von 1979 – von denen hat man davor nichts gehört und danach auch nicht mehr viel“.
Das gab mir zu denken.
Nicht darüber, dass wir in Deutschland wohl mit die schlimmste Radiolandschaft überhaupt haben – nein, darüber wie Dr. Feelgood insgesamt in Deutschland rezipiert wurden und einzuordnen sind. Dr. Feelgood, und wir sprechen hier ausnahmslos über die Zeitspanne von 1975 bis 1981, bekamen in Deutschland durchwachsene Kritiken und waren bei Musikjournalisten und Musikexperten eine eher belächelte Band.
Eine klassische 3 von 6 – Sterne Band, irgendwo verortet zwischen Status Quo, Ten Years After und Rory Gallagher. Eine hart arbeitende, schwer trinkende Kumpelband – immer unterwegs.
Im Gegensatz zu England, wo Dr. Feelgood als Wegbereiter des Punkrockmovements und als Pioniere der Gegenbewegung (Pubrock) zu entfremdetem Stadionrock und dem ganzen theatralischen Superstarhype der Dinosaurier- und Artrockbands Mitte der 1970er Jahre angesehen werden, interessierte sich in Deutschland eher das klassische Bluesrockpublikum für die Band. Mit Punk hatten Dr. Feelgood in Deutschland nicht viel zu tun.
Ich kaufte mir im Sommer 1979 „As it happens“ am selben Tag wie „It’s Alive“ von den Ramones. „It’s Alive“ war die Platte des Monats damals im Musik Express und „As it happens“ stand bei Govi Schallplatten als Neuheit stapelweise herum.
So stieg ich also mit einer Platte auf der Gypie Mayo Gitarre spielt (77 bis 81) ein und nicht mit Wilko Johnson, seinem in England hochverehrten Vorgänger (bis 77). Ich hörte die Platte rauf und runter, bis ich sie auswendig kannte. Ich mochte Stücke wie „Baby Jane“, „Take a Tip“, „Ninety-Nine and and a half (won’t do)“,“Every Kind of Vice“,“Down at the Doctors“,“She’s a Windup“, „As long as the Price is right“ – den auf dem Cover extra angekündigten Hit „Milk and Alcohol“ fand ich jedoch gar nicht so bemerkenswert.
Etwa ein Jahr später kam dann „A Case of the Shakes“ heraus, damals das neue Studioalbum, welches mich mit Hits wie „Best in the World“, „Punch Drunk“, „No Mo Do Yakamo“, „Drives me wild“ etc. total begeisterte.
„Let it roll“, das eigentiche Studioalbum nach „As it happens“ und vor „A case of the Shakes“ hatte ich damals verpasst. Aber ich kaufte relativ schnell alle anderen Feelgood-LPs wie „Private Practise“, „Be Seeing You“ und auch die ganzen Alben mit Wilko Johnson nach. So hatte ich 1981 alle zehn bis dorthin erschienen Platten in meinem Regal – wohl so ziemlich die einzige Band, die ich als Kind bzw. Jugendlicher komplett hatte
Für mich waren Dr. Feelgood in erster Linie auch als Geschichtsmusiklexikon wichtig, denn ich stellte fest, dass deren Repertoire zu ca. 50% aus Eigenkompositionen und zu 50% aus Coverversionen bestand.
So recherchierte ich nach und nach die ganzen Originaltitel, wie zum Beispiel: „Baby Jane“ / Otis Clay, „I’m a Hog for You Babe“ / The Coasters, „I can tell“ / Bo Diddley, „Things get better“ / Eddie Floyd, „Checkin‘ up on my Baby“ / Sonny Boy Williamson, „Boom Boom“ / John Lee Hooker usw. und besorgte mir die Platten, was Anfang der 1980er Jahre gar nicht so einfach war.
Genauso wie mich damals The Jam zu Curtis Mayfield und Motown brachten – Stiff Little Fingers, The Specials und The Clash zu Reggae und Ska, brachten mich Dr. Feelgood weiter in Richtung der Wurzeln und der eigentlichen Originale des Blues, des Rock’n’Roll und des Soul der 1950er und 1960er Jahre des jungen schwarzen Amerikas.
Ich verlor dann Mitte der 1980er Jahre das Interesse an Dr. Feelgood, obwohl ich sie erst da ein paar Mal in immer komplett anderen Besetzungen live gesehen hatte. Die ganzen Platten besitze ich natürlich immer noch und habe sie alle nun nochmals durchgehört.
Man kann prinzipiell sagen, dass die Mark 1-Besetzung (Lee Brilleaux, Sparko, The Big Figure, Wilko) zwar überall besser rezipiert wird, aber meiner Meinung nach die Mark 2-Besetzung (Lee Brilleaux, Sparko, The Big Figure, Gypie Mayo) genauso gut war.
Das Feelgood-Veröffentlichungsprinzip war damals denkbar einfach: 2 Studioalben herausbringen und daraus ergibt sich als dritte Veröffentlichung ein Livealbum. Denn was die Band am besten konnte, waren natürlich Liveauftritte.
Wie sind die einzelnen LPs nun aus heutiger Sicht zu bewerten?
DOWN BY THE JETTY ( JANUAR 1975)
Bewertung: 9 / 10
Eine Platte die auch heute noch herrlich altbacken, reduziert und unglaublich spannend klingt. Produziert von Vic Maile (The Who, Kinks, Small Faces, Hawkind, Motörhead, Screaming Blue Messiahs, Inmates etc.) und in Mono abgemischt. Wilkos großartige Gitarrentechnik und sein unverwechselbarer Sound sind das große Plus der ersten Feelgood-Veröffentlichungen. Sein Gesang, er hatte sich wohl erstritten, dass er immer einige Songs pro Platte selbst singen darf, sind leider ein kleines Minus. Hätte er nur mal Lee machen lassen und sich auf das Wesentliche konzentriert. Aber das soll auch nicht überbewertet werden. Sparko und The Big Figure sind auch hier schon die mehr als solide Rhythmussektion, die sie ja auch später immer waren und Lee Brilleaux singt sympathisch und erdig rauh – sicher nicht der größte weiße Blues- und Soulsänger – aber er passt zu 100% zum Style und zur Haltung der Band.
MALPRACTISE (OKTOBER 1975)
Bewertung: 8,5 / 10
Für Malpractise gilt dasselbe wie für „Down by the Jetty“. Nur dass die Platte von Vic Maile in Stereo aufgenommen wurde.
STUPIDITY (LIVE ALBUM + 7″ – SEPTEMBER 1976)
Bewertung: 9 / 10
Die erste Feelgood Live-LP, die damals für eine Woche die Nr. 1 der englischen LP-Charts wurde und die einige spätere Punkmusiker maßgeblich beeinflusst haben soll. Die Mark 1 Besetzung mit Wilko Johnson war hiermit auf dem Höhepunkt ihres Schaffens angelangt und die Veröffentlichung dokumentiert, was für eine hervorragende und aufregende Liveband Dr. Feelgood damals waren.
SNEAKIN SUSPICION (MAI 1977)
Bewertung: 3,5 / 10
Letzte Platte mit Wilko Johnson und die mit Abstand schwächste Feelgood-LP der Phase von 1975 bis 1981. Jegliche Schärfe und Togetherness war raus. Die Band klingt uninspiriert, kraftlos und ausgebrannt.
BE SEEING YOU (SEPTEMBER 1977)
Bewertung: 9 / 10
Erste LP mit Wilkos Nachfolger Gypie Mayo an der Gitarre. Die Platte die am meisten den Geist des Punkrock atmet. Großartig frisch von Nick Lowe auf den Punkt produziert. Die Band hatte ihren alten Biss und ihre Schärfe wieder zurück.
PRIVATE PRACTISE (SEPTEMBER 1978)
Bewertung: 7 / 10
Nachdem alle bisherigen Feelgood-Studioalben ja mehr oder weniger fast live eingespielt worden waren, hat man hier versucht erstmal ein richtig abmitioniertes Studioalbum zu produzieren. Richard Gottehrer (Blondie, Richard Hell, Joan Armatrading etc.) hat der Band hier einen sehr transparenten und damals sicherlich sehr zeitgemäßen Sound verpasst, der an manchen Stellen ein wenig arg sauber und brav daherkommt. Insgesamt leidet die LP aber eher am Songmaterial bzw. der Songauswahl: 6 Killer vs. 4 Filler.
AS IT HAPPENS (LIVE ALBUM + 7″ – JUNI 1979)
Bewertung: 9 / 10
Aus Songs der zwei Studioalben „Be Seeing You“ und „Private Practise“ wurde das Livealbum zusammengestellt und zeigt die Band in toller Form. Die Platte ist „Stupidity“ ebenbürtig und zeigt wie gut das Feelgood-Lineup mit Gypie Mayo doch war.
LET IT ROLL (SEPTEMBER 1979)
Bewertung: 6,5 /10
Die sicherlich produktionstechnisch ambitionierteste Feelgood LP wurde von Mike Vernon (John Mayall, Fleetwood Mac, Ten Years After, Savoy Brown etc.) stilistisch sehr breit angelegt und mit Keyboards, Bläsern und für Feelgood’sche Verhältnisse unglaublichen Studiogimmicks ausgestattet. Mit „Put him out of your Mind“ enthält die Platte einen vermeintlichen Tophit und mit „Keeka Smeeka“ das schönste Instrumental, das die Band jemals veröffentlicht hat und mit dem „Shotgun Blues“ das längste Stück der Veröffentlichugsgeschichte der Band.
A CASE OF THE SHAKES (SEPTEMBER 1980)
Bewertung: 9 / 10
Nick Lowe hat der Band einen damals 1980 sehr zeitgemäßen Powerpopsound hinproduziert, der zum wieder nur auf Bass/Gitarre/Schlagzeug/Gesang/Mundharmonika reduzierten Intrumentarium wunderbar passt. Das Songmaterial ist ausgezeichnet und so ist „A Case of the Shakes“ für die Band der eigentlich richtige Schritt in das neue Jahrzehnt gewesen. Doch kurze Zeit später fiel das Mark 2-Lineup auseinander und die große Ära von Dr. Feelgood war definitiv vorbei.
ON THE JOB (LIVE ALBUM – AUGUST 1981)
Bewertung: 7 /10
Aus zwei Studioplatten mache ein Livealbum. 7 Songs von „A Case of the Shakes“ und 5 von „Let it roll“. Das letzte Lebenszeichen der Mark 2-Besetzung, deren Vertrag mit United Artists / EMI nicht verlängert wurde und so wurde aus der Not dieses Livealbum geboren. „On the Job“ ist exakt der richtige Titel – es ist nichts schlecht an diesem Mitschnitt aus der Manchester University, aber verglichen mit den beiden anderen Liveplatten fehlen hier der Livefunke und das gewisse Etwas. Doch die Songauswahl ist gut und die Band spielt solide und sehr ordentlich ihr Set herunter.
10 Empfehlungssongs für Dr. Feelgood-Einsteiger zum Selbstrecherchieren:
Keep it out of sight
Cheque Book
Because you’re mine
I’m a Hog for you Babe (Liveversion – Stupidity)
Baby Jane (Studioversion mit Orgel)
She’s a Windup
Get a Tip
Put him out of your Mind
Best in the World
Drives Me Wild
WILKO JOHNSON explains his guitar style
TRAILER „Oil City Confidential“