TV PERSONALITIES – „CHOCOLATE ART – LIVE AT FORUM ENGER“ (1985)
„… they sound terribly ragged even by TVPs standards here. The three can’t seem to start and stop together to save their lives, and Treacy’s voice is more than usually weak … between the terrible sound and the lackluster playing, this is strictly for fanatics and completists.“ Stuart Mason, Allmusic
Es war Anfang 1985. Ich verbrachte zu der Zeit viel Zeit im Plattenlädle in Esslingen. Wie in Plattenläden damals üblich wurde geraucht was das Zeug hielt, fieser Kaffee getrunken – in dem ein Löffel stehen konnte – und es wurde sich hauptsächlich über Fußball und das bevorstehende Ende des Waldes, des Kapitalismus bzw. der ganzen Welt unterhalten. Den Verkaufstresen im Lädle zierte von vorne seit Jahren ein Riesenposter von „The Teens“, das ich dort als Späßle (gedacht für einen Tag) mal angebracht hatte.
Eine illustre Schar von komischen Leuten hatte den Laden fest im Griff und man redete zumeist altklug und sarkastisch daher. Den Höhepunkt eines Besuchs stellte immer der heißersehnte Mann von der Post dar, der die Pakete mit den neuen Platten brachte. Der Inhaber des Lädles zelebrierte das Öffnen dieser Pakete in Superzeitlupe, mit entsprechenden fachkundigen Kommentaren zur Musik bzw. Band. Wie bei einer Tupperwareparty durfte man als Kunde sofort signalisieren, wenn man eine der frisch ausgepackten Platten gleich kaufen wollte.
Das brachte einem aber keinen zeitlichen Vorteil, da die Platten trotzdem erst inventarisiert (Karteikärtchen) und ausgepreist werden mussten. Es war eine sehr entschleunigte Zeit damals und Plattenhändler hatten eben schon immer ihre Rituale und auch schon damals deutlich mehr Zeit als ihre Kundschaft.
In einem der untersten Pakete war sie dann endlich. Ein schwarzes Cover mit neunmal demselben orangenen Kopf drauf. Wie eine Art Siebdruck. Das sah nach Kunst und eigenartig aus, da man auf einem Cover einer Band die solche Musik machte und eine Liveplatte herausbrachte eher drei gut angezogene, schelmisch dreinschauende und verpeilte junge Männer in Aktion – auf einer viel zu kleinen und spärlich beleuchteten Bühne – mit 1960er 2nd hand Instrumentarium erwartete.
Außer mir warteten noch zwei weitere Kunden auf die neue Television Personalities-Platte. Eine Liveplatte – hmmm? Braucht man die? Taugt die was? Die Spannung stieg.
Die TVPs waren seit Jahren big in Esslingen oder zumindest im Plattenlädle. Die vier Studioalben „And Don’t The Kids Just Love It“, „Mummy You’re Not Watching Me“, „They Could Have Been Bigger Than The Beatles“ und „The Painted Word“ waren allesamt großartig und Bestseller im Lädle. Gleich nach ZZ Top, Slayer, Duran Duran, Nick Cave und den Wipers.
Mike, Michel, Micha, der Lädle oder Mürri (Plattenhändler haben viele Namen) nahm noch zwei tiefe Züge von seiner Salem und legte die Platte dann endlich auf. Er kündigte sie als die definitive Platte des Jahres 1985 an. Nach wenigen Takten wandten sich die im Raum anwesenden Metaller, Mainstreamhörer und New Waver ab. Ein gutes Zeichen!
Ich hielt das Cover in Händen. Es waren sämtliche Hits drauf (sie hatten ja auch nur Hits) und die TVPs spielten in Triobesetzung – Dan Tracey, Jowe Head und ein gewisser Jeffrey am Schlagzeug. Dazu wurde die Platte im September 1984 ausgerechnet live in Enger, in der Nähe von Bielefeld in Ostwestfalen, vor gefühlten 25 Zuhörern aufgenommen.
Es wäre ein leichtes gewesen für die TVPs live im Marquee oder im 100 Club oder im Electric Ballroom oder sonstwo in einer angesagten Location in London stilgerecht vor ausverkauftem Haus sich aufnehmen zu lassen – aber nein, das war gelebtes Understatement und gelebtes Augenzwinkern.
Ich kannte alle Songs schon von den Studioalben her auswendig und diese klingen in den Liveversionen noch schräger, noch abgespeckter und noch fragiler. Zum Teil klingt das alles auch ziemlich verstimmt, zeitlupenhaft und bei einzelnen Songs muss man wirklich Angst haben, dass sie komplett auseinanderfallen.
Ich schob das damals auf die eher bescheidene Musikanlage im Lädle und ließ mich im Gegensatz zu allen anderen nicht abschrecken. Ich kaufte die Platte.
Eine hervorragende Entscheidung, denn „Chocolate Art“ ist mit den tollen und witzigen Ansagen, den fantastischen Songs, den ironisch cleveren Texten, den wunderbaren Musikzitaten und ihrem einzigartigen fragilen Klang an Charme, Ausstrahlung, Wärme und Tiefe kaum zu überbieten.
Eine einzigartige Band, zur richtigen Zeit am richtigen Ort live mitgeschnitten, auch wenn die Platte überwiegend schlechte Besprechungen bekommen hat – sie ist eine der besten Liveplatten aller Zeiten, die einem auch heute noch 46 Minuten ein permanentenes Lächeln ins Gesicht zaubert.
Aus heutiger Sicht hört sich das an wie ein unglaublich frisch und gut klingendes verschollenes Livedemoband von John, Paul und Ringo auf Valium von 1968 (George schlief vor dem Auftritt ein). Aufgenommen in einem Pub in Bermondsey, Southeast London, bei dem sie ihre neuen byrds- und barrettlastigen Songs auf geliehenen Instrumenten zum ersten Mal gemeinsam spielten, die später zu Welthits wurden. Der Wirt hatte sie zum Spielen überredet, doch das Publikum spielte weiter Darts und Karten und mochte eigentlich keine berühmten Bands, applaudierte aber hin und wieder artig. Nach einer Dreiviertelstunde hieß es dann „Time Gentlemen, Please!“ und man zog ihnen abrupt die Stecker raus.
I know where Dan Tracey lives – aber das ist eine andere und leider sehr traurige Geschichte.
Bewertung: 10/10